Über kleine Unterschiede

Sizilien. Mit einem weissen Fiat Cinquecento kurven wir zu zweit eine Woche kreuz und quer durch die Insel. Palermo, unser Ausgangspunkt ist gut doppelt so gross wie Zürich, und entsprechend lange haben wir am ersten Tag, bis wir aus dem hektischen Verkehrschaos der Grossstadt herausgefunden haben. Rundum hupt es ständig, ohne dass sich jemand darob aufregt. Auf den an und für sich zweispurigen Strassen wird mindestens drei bis vierspurig gefahren, dabei munter links und rechts überholt. Stopstrassen werden salopp ignoriert und auch Rotlichter sind nicht sakrosankt, vor allem Motorräder kümmern sich wenig darum. Parkiert wird am Strassenrand oft zweireihig nebeneinander – und ich frage mich immer wieder, wie wohl die äussere Reihe parkierter Autos sich dereinst wieder in den fliessenden Verkehr einreihen werden, wenn ihre Halter ihre Geschäfte erledigt haben …

In kleineren Ortschaften vor allem im Inneren der Insel finden sich traumhaft malerische Orte, sehr oft angeklebt an Abhänge oder auf Felsplateaus aufgepfropft. In vielen Gassen können dort kaum zwei Autos kreuzen, und trotzdem stehen auch hier am Strassenrand unzählige Fahrzeuge parkiert, ohne dass deswegen ein Aufsehen gemacht würde. Dabei hat es auffallend viel Polizei, die das alles toleriert, solange die abgestellten Wagen die Strassen nicht vollständig blockieren. Vielleicht müssen die vielen Ordnungshüter sich gegenseitig überwachen wegen der Korruption – und vielleicht braucht es noch eine dritte Polizeistreife, die auch die zweite überwacht – immerhin sind wir im Zentrum der Maffia – geht mir spontan durch den Kopf.

Nach wenigen hundert Kilometern Fahrt habe ich mich daran gewöhnt und ertappe mich, wie ich mich in frecher – oder eleganter ? – italienischer Art ebenfalls durch den Verkehr schlängle und das Auto bequemerweise überall stehen lasse, wo es nicht stört. Eines wird mir langsam klar; der Verkehr wird durch dieses illegale aber flexible und permissive Fahrverhalten viel flüssiger und ein Durchkommen selbst in hoffnungslos erscheinenden Blechknäueln erstaunlich glatt.

Mit der selben Grosszügigkeit wird jedoch auch mit der Umwelt umgegangen. Ein Grossteil der Fahrzeuge ist alt, demoliert und bläst rabenschwarze Rauchwolken hinten raus – und die Strassenränder sind übersät mit Unrat jeglicher Art. Penetranter Gestank begleitet uns durch die ganze Agglomeration von Palermo.

Zurück in der sauberen Heimat; selbst mitten in Bern können wir frei atmen.

Mittags um Zwölf. Auf dem Areal der Autobahnraststätte Grauholz hat es keine Parkplätze mehr. Unzählige riesige LKWs stehen sogar auf PW Parkplätzen und nehmen so vielen Kleinfahrzeugen ihre Parkiermöglichkeit weg. Ich fahre auf ein Rasenstück neben einem besetzten Parkplatz, niemand wird dadurch gestört. Als wir vom Mittagessen zum Auto zurückkommen, sehen wir eine Polizeistreife einen Bussenzettel ausfüllen. Alles Erklären von fehlenden Parkplätzen und LKWs auf PW-Plätzen nützt nichts – Ordnung muss sein, auch wenn sie situativ eigentlich keinen Sinn macht.

Vielleicht ist das der Preis, den wir für die Sauberkeit und Ordnung in unserer Heimat bezahlen.

Dr. med. Jürg Naef, Herzogenbuchsee